Im Schatten des Vesuv

Zwischen Gassen und atemberaubenden Aussichten; Neapel – die Stadt der Kunst des guten Lebens.

Um dreiviertel sechs Uhr morgens beginnt die Sonne vor der stillen Stadt, die sich über das Klischee hinwegsetzt, dass sie immer chaotisch und laut ist, den Himmel hinter dem Vesuv in goldenes Licht zu tauchen. Der Schatten des Vulkans erstreckt sich über den Golf und versucht, die Küstenlinie von Neapel zu berühren. Es ist wie die Zärtlichkeit eines Vaters für seine noch schlafenden Kinder, wenn er das Haus verlässt, um zur Arbeit zu gehen.

Der Schatten des Vesuvs ist der Atem, der die Stadt zum Leben erweckte, die symbolische Prägung des Charakters der Neapolitaner und ihrer Lebensweise. Erde, Feuer und Wasser vereinen sich in dem Landgebiet wie in der Seele des Neapolitaners. Wurzeln, Leidenschaft und Fluidität bestimmen den daraus resultierenden Charakter.


Der Neapolitaner – Tiefe Wurzeln und kosmopolitischer Geist

Die Suche nach dem Ursprung dieses Volkes ist keine Suche nach faden Nationalismen, sondern vielmehr die Entdeckung eines Kaleidoskops, das sich aus den Facetten von 2800 Jahren mediterraner Geschichte zusammensetzt. Die Stadt wurde von den Griechen gegründet, zuerst das antike Partenope und dann die Neue Polis (Neapel), gefolgt von den Römern, die sie groß und mächtig machten. Die arabische Kultur berührte sie mehrmals, doch dann malten die Normannen, die Anjou, Friedrich II. von Schwaben und schließlich der spanische Hof die Kästchen eines über einen langen Zeitraum hinweg entstandenen Bildes aus.

Der Melting Pot der Kulturen hat ein Volk hervor­gebracht, das sich zur Gastfreundschaft berufen fühlt und einen kosmopolitischen Geist besitzt. Die Gastfreundschaft dieser Stadt und der Neapolitaner zu erleben, ist eine einzigartige Erfahrung. Die Reisenden, die in Neapel ankommen, sollten den Medienlärm, der die Stadt fälschlicherweise als voller Gefahren beschreibt, nicht beachten und sich von der Wärme der neapolitanischen Lebensart einhüllen lassen, die so archaisch und beruhigend ist wie die vulkanische Erde, aus der sie entstanden ist. Ein Spaziergang durch die Straßen der Altstadt ist ein Bad in einer chaotischen, harmonischen und studierten Art, das Leben zu genießen.

Foto: POSILLIPO UND SEINE EXKLUSIVE WELT Der Palazzo Donn’Anna mit seiner Eleganz eines Adelshauses vom Anfang des 17. Jahrhunderts markiert eine ideale Linie zwischen der Stadt und dem Beginn des Posillipo-Hügels. Dieser herrliche Ort mit atemberaubenden Aussichten ist heute der Wohnsitz der wohlhabendsten Neapolitaner.


Farben, Anregungen und Düfte umhüllen die Seelen der Reisenden, die diese Stadt für immer verliebt verlassen. „Ich reise ab. Ich werde weder die Straße von Toledo noch die Aussicht, die wir aus allen Stadtteilen Neapels haben, vergessen: Sie ist unvergleichlich, in meinen Augen die schönste Stadt des Universums“, schrieb Stendhal, als er Neapel im Jahr 1817 verließ.

Wie für Dichter und Künstler ist Neapel auch für den gewöhnlichen Touristen eine inspirierende Stadt. Die Wärme dieses Landes ist die uralte Seele der Neapolitaner, die in einer Landschaft verwurzelt ist, die Gedanken an die Unsterblichkeit weckt. „Neapel sehen und sterben!“, so heißt es in den Schriften Goethes, der sich in die Stadt verliebte und so den Imperativ überlieferte, dass jeder Mensch mindestens einmal im Leben vom Hügel Posillipo (aus dem griechischen „Pausilypon/Ort fern der Sorgen“) auf den Golf von Neapel blicken sollte.

Foto: DIE GEMÜSEGÄRTEN VON NEAPEL Die 1001 Gemüsegärten von Neapel zwischen den Gebäuden der Stadt sind kleine grüne Oasen, die saftige Orangen und Zitronen hervorbringen. Und all das Gemüse, das für die neapolitanische Gastronomie typisch ist. Fantastische Produkte dank der Zusammensetzung des Bodens, der über Millionen von Jahren vom Vesuv befruchtet wurde.

Leidenschaft – das Feuer, das den Atem der Stadt belebt

In Neapel geht alles schnell, obwohl die Veränderungen in diesem Schmelztiegel, der die Stadt ist, langsam ­reifen. Wenn man um die Ecke eines „Vicolo“, einer der engen Gassen im Zentrum Neapels, biegt, ist es manchmal, als würde man durch ein Zeitportal gehen und sich zwischen transparenten Bildern der Gegenwart bewegen, durch die man ganz natürlich die lebendige Vergangenheit erkunden kann.

Die Moderne lebt in Symbiose mit der Vergangenheit. Die alten Klöster im Zentrum stehen neben den trendigen Tavernen für Touristen, der historische Musik­instrumentenbau in der Via San Sebastiano, in der Nähe des Konservatoriums, neben den neapolitanischen Merchandising-Geschäften für Touristen.

Foto: GENUSS ZUM GREIFEN NAH Wenn man durch die Gassen Neapels flaniert, ist das Angebot an kleinen Vergnügungen unendlich. Bei einem Spaziergang durch die Altstadt begegnet man den Verkäufern von Zitronen-Granitas, von denen der berühmteste Carmine ist. Aber es gibt auch kleine Stehcafés für einen schnellen Espresso, Verkäufer von Süßem, wie Sfogliatella und Babà, frittierter Pizza und vielem mehr.

Der Berührungspunkt von Gegenwart und Vergangenheit ist die Lebensart der Neapolitaner, die sich im Laufe der Zeit nie verändert hat. Auf einer Seite ist da das hektische Tempo der Stadt, in der sich die Neapolitaner langsam und entspannt bewegen. Jede Idee, jeder Impuls wird schnell aufgegriffen und in Aktivität umgesetzt, aber dann hat das Tun seinen eigenen Zeitrahmen, in dem die Praktiken des täglichen Lebens ihren Platz finden müssen: ein schneller Kaffee mit einem zufällig getroffenen Freund. Das heilige Ritual des Mittag­essens, das mit dem Abendessen Hand in Hand geht. An der Bar über das letzte Fußballspiel von Napoli plaudern und zwei Minuten an einer Straßenecke das Gesicht der Sonne zugewandt verweilen, um die Batterien der Leidenschaft aufzuladen. Projekte werden vorangetrieben, die Arbeit geht voran, eine Lösung für ein Problem wird gefunden, aber das langsame, ruhige Atmen der Stadt wird nie gestört. Das ist die Kunst des guten Lebens.Das Angebot der Stadt für Einheimische und Besucher ist vielfältig: von Handwerksbetrieben über kleine Mode­geschäfte bis hin zu den zahlreichen bunten Greißlern, die köstliche Lebensmittel verkaufen. Vom raffinierten Restaurant über die traditionelle Taverne bis hin zu den Tausenden von Street-Food-Läden. Von den im Vergleich zu den anderen Plätzen Europas unkonventionellen Straßenkünstlern bis hin zu dem Charakter, bei dem man nicht weiß, was er tut und was er anbietet, der dich aber anhält und sympathisch ein paar Minuten mit seinem Angebot unterhält … was immer es auch sein mag.

Derjenige, der tut, tut es mit Leidenschaft und bietet sein Produkt mit ganzer Begeisterung an. Der Reisende aus dem nordeuropäischen Kulturkreis kann sich an-gegriffen fühlen, in seiner Intimsphäre bedrängt. Man muss loslassen, sich gehen lassen. Wer nach Neapel kommt, muss vertrauensvoll in diesen Fluss des Lebens, der die Stadt ist, eintauchen und sich treiben lassen.

Alles fließt – eine Stadt im Zeichen des Werdens

Foto: DER NÖRDLICHSTE SUQ DES MITTELMEERS Die gesamte Altstadt innerhalb der Stadtmauern ist wie ein Suq der arabischen Welt. Unzählige kleine Geschäfte und Boutiquen bieten ihre Waren an. Laden- und kleine Tavernen-Besitzer halten Touristen auf der Straße an und laden sie ein. Alles ist bunt und duftet nach den Köstlichkeiten des Street Food.

Das heraklitische Pánta rheî findet seinen eindrucksvollsten Beweis in Neapel. Es ist nicht möglich, zweimal in diese Stadt einzutauchen und dieselbe Erfahrung zu machen. Nicht nur, weil sich alles verändert, sondern auch, weil es der Besucher selbst ist, der verändert wird. Um Neapel kennenzulernen, muss man alle Erwartungen über Bord werfen und sich auf das einlassen, was die Stadt zu bieten hat. Jeder neue Besuch wird der erste sein, voller Entdeckungen und Faszinationen, die sich nicht wiederholen, die nicht ermüden.

Es ist die Stadt selbst, die einen ständigen Wechsel der Perspektive bietet. Die lauten Gassen, Vicoli, und engen Straßen des Zentrums, in denen man wie auf einem Skateboard jonglieren muss, um durch den chaotischen Strom von Menschen, Mopeds, Autos und Straßenverkäufern zu kommen. Dann, wenn man die Hügel hinaufsteigt, öffnet sich an einer Straßenkurve plötzlich ein Panorama, das einem den Atem raubt. Das Motiv ist immer dasselbe, der Golf von Neapel und die imposante Masse des Vesuvs, aber mit dem Wechsel des Blickwinkels verändert es sich. Einmal ist der Vesuv ganz nah, riesig, fast zum Greifen nah, aber dann verblasst er in der Landschaft der sorren­tinischen Küste, die ihm folgt, und der Blick gleitet schnell an den Reliefs und Kurven der Küste entlang, ­bevor er auf das Profil von Capri springt.

Und dann gibt es noch die Stadt, die man nicht sehen kann – das Napoli Sotterranea: eine Reihe von archäologischen und paläoarchäologischen Stätten auf mehreren Ebenen unter dem historischen Zentrum. Ein Stadtgrundriss, der sich sowohl oben als auch unten wiederholt, der aber durch die Zeitalter, griechisch und römisch, hindurchgeht und an der Oberfläche in der heutigen geschichtsträchtigen Stadt endet. Aber Neapel verbirgt noch viel mehr unter der Erde, und zwar an mehreren Stellen, etwa den Bourbon-Tunnel, die Katakomben von San Gennaro und unterirdische Friedhöfe.
Es bleibt keine Zeit zum Verweilen, weder in den Vicoli noch vor den Aussichten oder im Untergrund. Alles fließt. Die Stadt ist fließend wie das Meer, wie die Strömung des Golfs, die an ihrer Küste entlangläuft und die Wellen dazu bringt, an die Ufer zu schlagen, wie dreiviertel sechs Uhr morgens, wenn die Sonne aufgeht und die Wellen die Zärtlichkeit des Vesuvs der Stadt überbringen.

Ein weiterer Tag ist vergangen, aber das Neapel des Vortags gibt es nicht mehr. Vor den schläfrigen Augen des Touristen am Fenster seines Hotels, der an seinem neapolitanischen Espresso nippt, den er zu schlürfen gelernt hat, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie wenig in der Tasse ist, gibt es eine neue Stadt zu entdecken. Ein neues Bad in der Kunst des guten Lebens im Schatten des Vesuvs.


7 DINGE, DIE MAN UNBEDINGT KOSTEN MUSS

1. Espresso napoletano
Er ist der kleinste und geschmacksintensivste der in Italien zubereiteten Espresso. Samtig, mit einer dunkelbraunen Crema – ein explosives Konzentrat der Stadt.

2. Sfogliatella und Babà
Die beiden berühmtesten Kaffeehaus-Desserts Neapels. Ersteres ist ein Stück Stadtgeschichte – außen knusprig und innen ein cremiges Herz. Der Babà ist eine Mischung aus einladender Weichheit und saftig alkoholischer Feuchtigkeit … ein endloser Genuss.

3. Pizza Napoletana
Pizza ist heute global. Aber die neapolitanische Pizza gibt es nur in Neapel. Die UNESCO hat die Kunst des neapolitanischen Pizzabäckers 2017 zum Weltkulturerbe erklärt. Neben dem Essen kann man das Spektakel der Pizza-Zubereitung genießen.

4. Pizza Fritta
Die „arme“, aber köstliche Schwester der gebackenen Pizza. Es gibt sie in der Pizzeria, aber sie ist auch eines der beliebtesten Street-Foods der Neapolitaner. Die frittierte Pizza wurde von Sofia Loren im Film „Das Gold von Neapel“ unsterblich gemacht.

5. Neapoletanisches Ragù
Die Alma Mater der neapolitanischen Köche. Ein Kult, der in den Familien praktiziert wird. Ein Eintopf aus Tomaten und verschiedenen Fleischsorten. Das Ergebnis ist eine außer­gewöhnliche, aber köstliche Sauce für Pasta und Fleisch.

6. Die Genovese
Niemand weiß, warum dieser Rindereintopf mit vielen Zwiebeln nach der ligurischen Hauptstadt benannt ist. Darüber gibt es viele Mythen, aber keine Gewissheit. Eine duftende Sauce, die mit Nudeln und Parmesan genossen wird.

7. Minestra di Pasta und Kartoffeln
Ein traditionelles Arme-Leute-Gericht. Pasta wird in einer Kartoffelsuppe gekocht, mit Zwiebeln, Karotten und Schinken gewürzt. Am Ende werden geräucherter Scamorza-Käse und gewürfelte Parmesanrinde hinzu­­gefügt. Alles zerläuft und verschmilzt — eine Apotheose!


7 UNVERZICHTBARE ERLEBNISSE IN NEAPEL!

1. Unterirdisches Neapel
40 Meter unterhalb der Kirche von San Lorenzo Maggiore, bei der Piazza San Gaetano, ruhen unter den belebten Gassen Neapels die vielen Kapitel der Stadtgeschichte – von der griechisch-­römische Stadt bis zum Luftschutzbunker des Zweiten Weltkriegs.

2. Palazzo dello Spagnolo und Friedhof Fontanelle
Der Palazzo aus dem 18. Jahrhundert ist einer der schönsten Adelspaläste Neapels. Der Friedhof aus dem 17. Jahrhundert wurde während der Pest angelegt und ist ein einzigartiger und beeindruckender Ort. Beides im Bezirk Materdei.

3. Krippenbauer in der Via San Gregorio Armeno
In der Straße des Krippen- und des Krippenfiguren-Handwerks in Neapel treffen Gegenwart und Vergangenheit in einer einzigartigen Kunst aufeinander.

4. Presepe Cuciniello
Die schönste, größte und faszinierendste Weihnachtskrippe Neapels aus dem 18. Jahrhundert im Museum von San Martino auf dem Vomero-Hügel.

5. 360-Grad-Blick auf Neapel
Vom Exerzierplatz des Castel Sant’Elmo in San Martino auf dem Vomero-Hügel reicht der Blick über den Golf von Neapel, die Inseln und das Hinterland der Stadt. Eine atemberaubende Aussicht!

6. Botanischer Garten von Neapel
Er ist einer der überraschendsten Orte in Neapel. Der Garten wurde von den Bourbonen gegründet und gehört zur Universität von Neapel. Vor einigen Jahren wurde er wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nicht verpassen!

7. Sonnenuntergang im Virgiliano-Park
Der Virgiliano-Park auf dem Posillipo-Hügel bietet eine der schönsten Kulissen der Welt für Sonnenuntergänge. Seine Aussichts­terrasse mit Blick auf die Inseln Nisida, Procida, Ischia und die Landspitze von Capo Miseno ist ein magischer Ort.




Mit terre del SUD nach Neapel

Die Kochbuchautoren Dario & Manuela Santangelo organisieren kulinarische Reisen zur Entdeckung italienischer Städte und Regionen. Vom 13. bis 18. September 2022 bereiten sie eine Reise nach Neapel vor, um die Stadt und ihre kulinarischen Schätze zu entdecken. Mit Besichtigungen des historischen Zentrums und gastronomischen Führungen. Besuch des nahegelegenen Sorrent und eines typischen Bauernhofs an der sorrentinischen Küste, um zu lernen, wie man Mozzarella herstellt, und die sorrentinische Zitrone zu entdecken. Mit Kochkurs vor Ort über die neapolitanische Küche.

Weitere Informationen unter:
www.terredelsud.at/diegrandtour
oder
www.italissimo.at

© Text: Dario Santangelo
© Fotos: Dario & Diego Santangelo
2. Mai 2022

Dieser Blogbeitrag ist auch im LIKE IT Magazin April/Mai 2022 erschienen.










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